Entrümple dein Leben!

Warum Diogenes im Fass wieder modern ist

Minimalismus – oder Downsizing – steht für ein einfacheres Leben mit bewusstem Verzicht auf Konsumgüter. Im Schnitt besitzt jeder Europäer 10.000 Gegenstände, die ca. 46 m2 an Wohnfläche benötigen.
Hier ist von der Unterhose bis zur Matratze alles gezählt. Im Gegensatz dazu kehren viele Menschen dem Überfluss der Konsumgesellschaft den Rücken und leben minimalistisch ...


Das bedeutet, sich bewusst von Überflüssigem zu trennen, um mehr Raum und Freiheit für wesentlichere Dinge im Leben zu schaffen. Minimalismus bedeutet aber nicht, sich in die Steinzeit zurückzubewegen, sondern sich auf wichtige Dinge zu fokussieren. Grundsätzlich gilt dabei: Man sollte so wenige Gegenstände wie möglich und so viele wie nötig haben. Und das ist für jeden individuell.


Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf! Sokrates


So haben sich im Internet Gleichgesinnte zusammengeschlossen, um ihre Erfahrungen zu einem minimalistischen Leben auszutauschen. Schnell war klar, dass es nicht nur um materielle Dinge geht, sondern auch um Gewohnheiten, Beziehungen zu anderen Menschen oder Finanzen. Alle Bereiche des Lebens werden hinterfragt. Wobei es hier natürlich auch extreme Ausprägungen von Menschen gibt, die mit 100 Gegenständen auskommen können.
Die Erfahrungen aus einer minimalistischen Lebensweise reichen von „Mehr Lebensqualität durch Achtsamkeit und Minimalismus“ bis zu „Das Leben ist zu kurz, um es vor allem mit dem Verwalten und Erhalten von Dingen zu verbringen“.


Minimalismus vor 2.500 Jahren


Doch diese Haltung ist nicht neu, bereits im 5. und 4. Jh. v. Chr. lebten die Kyniker genau diese Lebensweise vor! Einer der bekanntesten Vertreter ist sicherlich Diogenes von Sinope – der berühmte Philosoph im Fass. Außer seinem Fass und seiner abgetragenen Kleidung besaß er nichts, nachdem er auch seine Wasserschale wegwarf, als er ein Kind mithilfe der beiden Hände trinken sah.
Auf die Frage von Alexander dem Großen, was er für einen Wunsch habe, antwortete er bekannterweise lediglich: Bitte geh ein Stück auf die Seite, um das Licht der Sonne nicht zu bedecken. Die Philosophie der Kyniker basierte darauf, dass das eigene Glück nur durch Bedürfnislosigkeit und Unabhängigkeit erreicht wird.


Genügsamkeit ist natürlicher Reichtum, Luxus ist künstliche Armut. Sokrates


Diese innere Freiheit besteht darin, tugendhaft zu leben, was uns wiederum zu mehr Selbstbeherrschung führt – und uns damit unabhängiger von äußeren Dingen macht. Sie forderten eine „Rückkehr zur Natur“, die im
Gegensatz zur damaligen Gesellschaft mit deren Kriegen und militärischen Eroberungen stand. Vielmehr galt es, die menschliche Bruderschaft und die Gleichwertigkeit der Menschen in den Vordergrund zu stellen.
Diese Zeit der Kyniker hatte einige Ähnlichkeiten mit unserer heutigen Zeit, so drohte die Moral und Tugend der griechischen Bürger zu verfallen. Die Kyniker waren hier eine Gegenströmung und somit auch Wegbereiter der Stoiker.


Muße ist der schönste Besitz von allen. Sokrates


Alles hinterfragen!


Zurück in die Gegenwart mit ein paar Tipps von Minimalismus-Profis: Frage dich, warum du diesen Gegenstand besitzt! Nimm jedes Ding einmal in die Hand und frage dich ehrlich, ob du es wirklich benötigst. Mach das
genauso mit deinen Gewohnheiten, Gedanken, Gefühlen ... Und danach wirst du um einigen Ballast leichter sein!
Doch was steht dem Aufräumen im Weg? Laut Marie Kondo, einer japanischen Aufräumberühmtheit, macht Entrümpeln glücklich und ausgeglichen. Doch dem stehen unsere Schweinehunde entgegen! Wer kennt nicht die unzähligen Ausreden, warum ich jetzt nicht Ordnung machen kann? Sei es aus Mangel an Zeit, Lust, Motivation ... In ihren Büchern und Vorträgen verbindet Kondo den Zen-Buddhismus und die Organisation des eigenen Lebens miteinander. So werden die persönlichen Gegenstände mit Respekt benutzt und haben einen fixen Platz – sie haben einen Wert. Dinge, die ich nicht mehr benötige, werden mit Dankbarkeit aussortiert und möglicherweise noch einem guten Zweck gewidmet.



Wer bin ich? Und was brauche ich dazu?


„Je weniger ein Mensch besitzt, desto unabhängiger ist er von jeglichen Konsumzwängen. In der Gesellschaft spiele der Konsum eine so große Rolle, dass sich viele hinter ihrem Eigentum versteckten und sich darüber definierten“, meint der Philosoph Jürgen Manemann. So kann der Konsum als eine identitätsstiftende Haltung definiert werden. „Ich bin, was ich besitze!“ Ein Mensch, der sich über seinen Besitz identifiziert, neigt auch leicht zur Habgier.
Da das Konsumieren ein wichtiges Glücksgefühl ist, will er immer mehr haben – er wird gierig. Und die Angst, diese Güter zu verlieren, ist allgegenwärtig. Wie ist das nun, wenn ich meine Gegenstände reduziere und bewusst weniger konsumiere? Ich muss mich automatisch mehr mit mir selbst auseinandersetzen. „Die Reduzierung auf das Nötigste hilft einem herauszufinden, was ein gutes Leben bedeuten kann. So kann
durch äußere Leere innere Fülle entstehen“, so Manemann.
Viele Menschen erfahren daher, dass Aussortieren mit Selbstfindung zu tun hat. Und hier kommen Fragen auf, die nicht so einfach zu beantworten sind: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich als Mensch aus?


Haben oder Sein?


Ein Vordenker zum Thema Identität war Erich Fromm: „Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe? Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise.“ Laut Fromm ist der egozentrische Mensch ein „Bündel von Begierden“, der am Ende seines Lebens erkennt, dass er wie eine Zwiebel ohne Kern ist, jemand der nie er selbst war.
Und genau hier beginnt die Suche nach dem eigenen Selbst – Fromm nennt das den „Seinsmodus“. Es heißt, den Mittelpunkt des Lebens in sich selbst zu haben und nicht in äußeren Dingen.
Die Fähigkeit, zu sein, sich selbst auszudrücken, kreativ sein zu können, ist Teil von mir und hängt allein von mir ab. Die Sicherheit, die ich mir durch Konsum vermeintlich kaufe, hängt im Seinsmodus nur von mir selbst ab. Meine innere Sicherheit entsteht aus meinem Glauben an das Leben, an das Vertrauen in meine Fähigkeiten, aus meinem Enthusiasmus und der Eigenverantwortung für mein Leben! Je mehr innere Stabilität ich erreichen kann, umso weniger Gegenstände benötige ich, um glücklich zu sein!


Ein reicher Mensch ist einer, der weiß, dass er genug hat. Laotse


Und noch etwas ist bei Menschen, die bewusst auf überflüssigen Konsum verzichten, zu beobachten. Das private Eigentum hat weniger Bedeutung, man teilt die Dinge, die einem Freude bereiten, mit anderen. Wer hat dieses tief empfundene Glück der geteilten Freude nicht schon erlebt? „Nichts vereinigt Menschen mehr (ohne ihre Individualität einzuengen) als ihre gemeinsame Bewunderung und Liebe für einen Menschen; als ein Gedanke, ein Symbol, ein Ritual, ja selbst Leiden, die sie teilen. Ein solches Erlebnis macht die Beziehung zwischen zwei Menschen lebendig und erhält sie lebendig, es ist die Grundlage aller großen religiösen, politischen und philosophischen Bewegungen“, so Fromm.


Im Hier und Jetzt


Wer an seinen Besitztümern hängt, lebt in der Vergangenheit. Er denkt an das, was er schon angehäuft hat: Geld, Ruhm, Eigentum, Wissen, Kinder, Erlebnisse. Und er versucht, sich an vergangene Gefühle zu erinnern – er schwelgt in der Sentimentalität. Von Objekten mit persönlicher Geschichte wie das Hochzeitsgeschenk der Tante, das seit 20 Jahren im Schrank verstaubt, können wir uns nur schwer trennen.
Oder der Mensch lebt in der Zukunft und denkt daran, was er alles haben wird: ein tolles Auto, Karriere, eine ruhige Pension, etc. Auch hier schwelgt er in Gefühlen, maltsich eine rosige Zukunft aus, wo er sich seine Wünsche erfüllen wird oder ein anderer Mensch sein wird als jetzt. Achtsam leben heißt, in der Gegenwart zu leben! Es heißt, sich zu begegnen, zu lieben, Freude zu empfinden, kreativ zu sein, Risiken einzugehen, Neues zu versuchen und die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten. Natürlich werde ich dabei meine Erfahrungen aus der Vergangenheit und Visionen für die Zukunft nicht außer Acht lassen!


Die Tugend genügt, um glücklich zu sein. Antisthenes


Wie gelingt ein Leben in der Gegenwart? Probiere mal einen Kurzurlaub nur mit dir allein, mit dem Allernötigsten im Rucksack, ohne viel Geld und sonstigen Bequemlichkeiten des Alltags. Lass dich auf ein Abenteuer
mit dir selbst ein und denke nach, was wichtig ist in deinem Leben.

Oder mach es wie die Kyniker: Suche dein Glück und deine Freiheit in einer Lebenshaltung, die auf deinen Überzeugungen und moralischen Werten beruht. Gehe in die Natur! Sie relativiert unsere vermeintlich großen Probleme und Sorgen und führt uns zu einem Verständnis der wichtigen Dinge im Leben.
So beginnst du, dein Leben zu entrümpeln!


Der Weise genügt sich selbst. Antisthenes


Hilfreiche Tipps:



  • Frage dich: Warum besitze ich diesen Gegenstand?

  • Frage bei jedem Kauf: Brauche ich das wirklich?

  • Welche Dinge kann ich zur Verfügung stellen?

  • Welche Gewohnheiten gehören nicht mehr zu mir?

  • Welche Denkmuster und Vorurteile habe ich?

  • Vertraue auf deine Fähigkeiten

  • Beginne mit kleinen Veränderungen

  • Nimm dein Leben selbst in die Hand!


 


Literatur:
- Erich Fromm, Haben oder Sein, dtv, 1976
- https://minimalismus.jetzt
- https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article153225002/Richtig-ausmisten-entlastet-Geldbeutel-und-Psyche.html


 


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 150, Oktober 2017 des Magazins Abenteuer Philosophie erstveröffentlicht
Autor: Rupert Hohensinn
Copyright: Verlag Filosofica, Münzgrabenstraße 103, 8010 Graz


 

powered by webEdition CMS