Die Weisheit des Epiktet: Mit Leidenschaften umgehen lernen

Die Weisheit des Stoikers Epiktet - Der Stoiker Epiktet lehrte einst, dass wir auf das Ideal der Weisheit auf keinen Fall verzichten sollten.

Seit Descartes geht es den Philosophen in erster Linie um Erkenntnistheorie. Es geht ihnen um Wahrheit, Erkenntnis und Wissen. Weisheit ist der akademischen Philosophie heute kein besonderes Anliegen mehr. Die analytischen Philosophen stehen dem Begriff skeptisch gegenüber und tatsächlich war er schon in der Antike mehrdeutig. Doch ist er deswegen hinfällig geworden? Der Stoiker Epiktet lehrte einst, dass wir auf das Ideal der Weisheit auf keinen Fall verzichten sollten.


Weisheit in der Antike


Der Begriff „sophia“, der gemeinhin mit Weisheit übersetzt wird, umfasste mehrere wichtige Bedeutungen, die schon in der Antike von den Philosophen unterschiedlich gewichtet wurden. Ursprünglich war damit eine außergewöhnliche Geschicklichkeit gemeint, um praktische Aufgaben zu bewältigen. Im Vordergrund stand zunächst die Wirksamkeit von Wissen, wobei Wissen und Können eine untrennbare Einheit bildeten. Wirksamkeit galt als Maß für das Können, das eine besondere Weitsicht, Umsicht und situative Urteilskraft erforderte (z.B. des Steuermanns, des Bildhauers, des Politikers oder des Heerführers). Sophia in diesem Sinne ist Ausdruck für eine umfassende, das ganze Wesen eines Menschen durchdringende Befähigung auf einem bestimmten Gebiet der Praxis. Ein weiterer Aspekt, der schon bei den Vorsokratikern galt, ist der eines von göttlichen Mächten inspirierten Wissens. Schon bei Parmenides und Heraklit spielte diese Annahme eine wichtige Rolle. Damit einher geht drittens die Vollkommenheit des betreffenden Wissens, die der Mensch in der Regel nicht erreicht. Ziel der Philosophie ist nach Platon die Annäherung des menschlichen Bewusstseins an das göttliche (omoiosis theo). Bei Aristoteles ist die Beschäftigung mit den ersten Prinzipien alles Seienden, die er „Theologie“ nannte, als die Betrachtung ewiger, unwandelbarer Wahrheiten, die göttlichste und reinste Form des Denkens. Doch kam es mit Aristoteles zu einer Zäsur im Hinblick auf die Deutung des Begriffs der sophia. Während bei Platon Philosophie und Lebensform noch untrennbar verbunden sind, hob Aristoteles den Selbstzweck von Wissenschaft hervor. Wahrheit liege jenseits von äußeren Zwecken. Ihre Erkenntnis ist rein theoretischer Natur. Dieser Gedanke erwies sich als überaus wirkmächtig. Dennoch bildete sich in dem auf Aristoteles folgenden Zeitalter des Hellenismus die Philosophie der Stoa heraus, die allem voran praktisch ausgerichtet war. Manche Vertreter dieser Schule begannen damit, ein besonderes Verständnis von Weisheit zu verkünden, das heute in Vergessenheit geraten zu sein scheint.


Die Philosophie der Stoa


Dem aristotelischen Diktum, dass Wissenschaft Selbstzweck sei und dass Weisheit ein Segen rein theoretisch-kontemplativer Beschaulichkeit ewig unwandelbarer Wahrheiten sei, widersetzten sich auf bemerkenswerte Weise die Stoiker. Die Dreiteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik ist bei den Stoikern nicht so zu verstehen, dass diese Disziplinen unabhängig voneinander wären. Sie fügen sich alle drei in ein System der Weltdeutung, das der Begründung ethischer Prinzipien und deren Umsetzung im Leben höchste Priorität beimisst. Das Bemerkenswerte an dieser Philosophie ist, dass deren Anhänger an einer speziellen Lebensform zu erkennen waren. Diese Lebensform war als ein ständiges Einüben der Übereinstimmung von richtigem Denken und richtigem Handeln zu verstehen. Ein Stoiker war daran zu erkennen, dass er dies konsequent in jeder Situation praktizierte. Das Einüben einer philosophischen Lebensform ist uns heute in Verbindung mit Philosophie fremd geworden. Klares Denken, einsichtiges Wollen, vernunftgemäßes Handeln in möglichst jeder Lebenssituation – dem Stoiker bedeutete genau dies echte ethische Praxis und genau darauf kam es ihm an.
Die politischen und sozialen Lebensumstände zur Zeit Epiktets waren äußerst instabil. Die stoische Ethik zielte daher auf eine rationale Lebenshaltung, die unter allen Umständen die Seelenruhe gewährleisten sollte. Antike Ethik war immer Tugendethik. Ihre Grundformel gilt daher auch für die stoische Ethik: Je besser du deine menschliche Natur verstehst und naturgemäß zu leben imstande bist, umso eher kannst du glücklich sein. Nach stoischer Lehre ist allein das vernunftgemäße Leben naturgemäßes Leben. Daraus zogen sie oft harte Konsequenzen. Kraft ihrer Lehre muteten sie sich zu, stets eindeutig den Unterschied zwischen wahren und falschen Urteilen in Bezug auf alles, was wir begehren können, zu kennen. Wie und was wir also begehren sollten, um glücklich zu sein, gerade das meinten die Stoiker zu wissen. Nun lässt sich natürlich über vieles streiten, was die Stoiker lehrten. Die richtige Erkenntnis bedeutender Wesenszüge unserer Natur hat nach stoischer Auffassung aber auf jeden Fall mit Weisheit zu tun, doch nicht nur das. Denn wer bloß Erkenntnis hat, aber nicht danach zu leben imstande ist – der ist noch nicht weise.


Das Ziel der stoischen Ethik


Je mehr wir wünschen über Objekte unserer Begierde außerhalb von uns zu verfügen, umso abhängiger wird unser Wohlbefinden davon sein. Dies ist eine universelle, alle Menschen betreffende Tatsache, die als zentrale Einsicht zugleich den Ausgangspunkt der stoischen Ethik bildet. Jeder kann dies für sich überprüfen. Doch zeugt eine derartige Selbsterkenntnis noch nicht von Weisheit. Wer die Grundidee der stoischen Ethik verstehen will, der muss verstehen, auf welche Art von Praxis sie abzielt. Das Ziel der stoischen Ethik ist nämlich anspruchsvoller als bloßes Verstehen oder bloßes Nachahmen von Handlungen. Das Ziel ist schließlich ein echtes Können im Umgang mit den eigenen Begierden. Wer wirklich ein Stoiker ist, zeigt sich dadurch, ob er fähig ist, selbst in emotional schwierigsten Situationen strikt bestimmten rationalen Prinzipien zu folgen. Ein solches Können ist jedoch schwer zu erlernen. Das große Vorbild der Stoiker war Sokrates, der ohne jede Furcht dem Tod entgegentrat und obwohl er flüchten konnte, den Schierlingsbecher und damit seinen Tod wählte. Ein Ereignis also, vor dem wir alle uns fürchten, konnte Sokrates nicht aus seiner Seelenruhe bringen. Warum? Wenn wir die Antwort der Stoiker auf diese Frage verstehen, haben wir bereits die Grundidee der stoischen Ethik erfasst. Die Antwort lautet: weil er der Vorstellung, dass der Tod ein Übel sei, nicht zugestimmt hat. Menschen leiden unter Verlustgefühlen genau dann, wenn sie der Vorstellung zustimmen, dass es sich wirklich um einen Verlust handelt. Dies klingt trivial, ist aber in Wahrheit oft schwer nachvollziehbar. Ganz „normale“ Menschen unterscheiden in emotional schwierigen Situationen, die mit einem Gefühl des Verlusts einhergehen, im Grunde nie zwischen dem, worauf es den Stoikern ankommt. Sie unterscheiden nicht zwischen der Vorstellung eines scheinbaren Verlusts, die das Gefühl des Verlusts erzeugt und dem Gefühl des Verlusts selbst. Stellen Sie sich vor, Sie verlieren all Ihr Hab und Gut und leiden furchtbar darunter. Der Stoiker sieht den Grund darin, dass Sie der Vorstellung zugestimmt haben, etwas Wertvolles verloren  zu haben. Diese Zustimmung aber obliegt Ihnen. Beachten Sie, dass wahrscheinlich kein Mensch in Ihrer Umgebung die Situation eines tragischen persönlichen Verlusts zum selben Zeitpunkt so abgeklärt analysieren würde. In persönlichen Extremsituationen wie diesen, die mit heftigen emotionalen Schmerzen einhergehen, sind wir kaum in der Lage, so nüchtern und klar zu denken wie es die stoische Ethik verlangt. Genau das aber praktizierten die Stoiker in allen Lebenssituationen. Sie übten eine Form von ethischer Praxis, die uns heute unbekannt geworden ist. Verstehen, Motivation, guter Wille, Entschlossenheit sind schön und gut, aber noch nicht hinreichend für ein solches Können. Können und Wollen müssten dazu mit dem ganzen Wesen eines Menschen so verschmelzen, dass er in jeder Lebenssituation dazu fähig ist. So wie ein Tennisprofi jederzeit seine Fähigkeit nützen kann, so will es auch der Stoiker können. Das praktische Können zielt auf das jeweils beste Handeln. Dieses ist im Idealfall zu einem fixen Bestandteil seines Wesens geworden und kann von ihm nicht mehr getrennt werden. Eines der wertvollsten Güter war den Stoikern die Seelenruhe (apathie). Der stoische Weise zeichnet sich dadurch aus, dass er zwar positive Gefühle intensiv erleben kann, jedoch stets in der Lage ist, selbst zu bestimmen, wie sehr er sich von negativen Emotionen aus der Ruhe bringen lässt. Er hat eine Form von Macht, Freiheit und Glückseligkeit erreicht, die heute niemand mehr mit diesen Begriffen assoziiert.


Die Weisheit des Epiktet


Erste Aufgabe der Philosophie ist nach Epiktet falsche Wertungen reflektieren und einen anderen Umgang mit unseren Begierden zu erlernen. Unsere Begierde sollte sich auf das philosophische Ziel richten, innerlich unabhängiger zu werden von all dem, was nicht in unserer Macht steht. Doch dazu braucht es natürlich auch eine theoretische Lehre. Einen Teil dieser Lehre haben wir bereits kennengelernt. Es ist die Lehre vom rechten Gebrauch der Vorstellungen. Wir können weit mehr Macht im Umgang mit Emotionen entwickeln, wenn wir verstehen lernen, dass wir nicht Opfer unserer Emotionen sein müssen, sondern dies von unseren rationalen Wertungen abhängt. Naturgemäßes Leben heißt nach stoischer Auffassung vernunftgemäßes Leben. Gemeint ist, dass es in unserer Natur liege, zu lernen, unsere Vernunft bei der Beurteilung eigener Handlungen richtig zu gebrauchen. Dies ist die stoische Lehre vom „ortos logos“. Entscheidend dafür sind Selbsterziehung und Selbsterkenntnis. Man muss der eigenen Vernunft erst zu jener Autorität verhelfen, die ihr von Natur aus zukäme. Dies erfordert nicht nur Erkenntnis, sondern besonders Übung. Eine Lehre, die Epiktet prägte, war daneben die Lehre von der Prohairesis. „Prohairesis“ meint eine grundsätzliche Vorentscheidung dahingehend, was wir für uns als gut und nützlich ansehen und was nicht. Epiktet teilt die Welt dabei in zwei Bereiche ein: einen, der in unserer Macht liegt und den, der nicht in unserer Macht liegt. Der Philosoph kümmert sich um das, was in seiner Macht liegt und worüber er frei verfügen kann. Das ist unsere Haltung den Dingen und Ereignissen gegenüber sowie die Art, wie wir sie beurteilen und mit unseren Emotionen umgehen. Der philosophisch Ungeübte dagegen kümmert sich allein um die Dinge der Außenwelt. Er rutscht von einer Abhängigkeit in die nächste. Er ist stets Opfer seiner Emotionen und Gefühle und seine Begierden richten sich meist auf das, was nicht in seiner Macht liegt. Deshalb leidet er, erlebt ständig Rückschläge und ist oft unglücklich. Epiktet fordert uns auf, hier eine grundsätzliche Wahl zu treffen. Denn nicht die Dinge und Ereignisse beunruhigen uns, sondern unsere Vorstellung davon. Nicht Ereignisse oder Umstände an sich machen uns glücklich, sondern die Art, wie wir sie begehren und wertschätzen.


Von Manuel Stelzl, BA


Literaturhinweise:
 EPIKTET: 1984. Handbüchlein der Moral und Unterredungen. Herausgegeben von Heinrich Schmidt. Neubearbeitet von Karin Metzler. Stuttgart: Kröner, 126.
HOSSENFELDER, Malte: 1995. Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis. 2. Auflage. München: C.H. Beck (Geschichte der Philosophie, Band III), S. 44-99.
POHLENZ, Max: 1992. Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 7. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 327-341.
SCHADEWALDT, Wolfgang: 1978. Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1. Berlin: Suhrkamp, 521.


Dieser Artikel von BA Manuel Stelzl erschien erstmals in der Ausgabe Nr. 142/2015 des Magazins Abenteuer Philosophie; mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Filosofica; Copyright: Verlag Filosofica, Münzgrabenstraße 103, 8010 Graz; www.abenteuer-philosophie.org


 

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