Wo Jesus vom Himmel fiel
Irgendwo zwischen Mexiko und Guatemala in der Tempelanlage von Tikal. Vom höchsten Punkt der Nordakropolis blicken wir nach Westen. Die Sonne senkt sich fast exakt über dem Tempel 4. Welch ein Frieden. Eine Begegnung mit der Ewigkeit. Spontan erheben wir unsere Stimmen: Abendstille überall … Wir singen. Begleitet von der Nachtigall des Dschungels.
Mittelamerika ist eine Begegnung. Hier treffen Nord- und Lateinamerika aufeinander, zwei Lebenswelten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und hier trifft eine rätselhafte Vergangenheit auf eine spannungsgeladene Gegenwart, die in eine unsichere und düstere Zukunft weist. Wir spüren diese Spannungen an jedem Tag unserer dreiwöchigen Reise. Doch trotz dieser Spannungen, trotz der Konfrontation mit der gigantischen Zerstörung von Kulturen durch europäische Eroberungswut und missionarischen Eifer und trotz der gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Misere sind wir glücklich in Mittelamerika. Wir sind „abnormale“ Touristen – sagen uns unsere Reiseführer. Wir geben uns nicht mit den Daten und Fakten zufrieden, uns interessieren die Mythen und Legenden, die Bedeutung der Götter und Helden, die alten Sternbilder und die Kosmogonien.
Aber wir sind auch „normale“ Touristen. Bewaffnet mit Sonnenbrille, Wasserflasche und Fotoapparat erkunden wir die Ruinen-Highlights aller großen mittelamerikanischen Kulturen: Teotihuacán, Tenochtitlan, Monte Alban, Mitla, La Venta, Palenque, Yaxchilán, Tikal, Copán. Wir freuen uns an gutem Essen und Trinken, wenn uns auch das Mistrauen nie verlässt. Wer will schon die Rache Montezumas am eigenen Leibe erfahren? Wir steigen vertrauensvoll in Busse, die es bei uns nur auf dem Schrottplatz gibt und rattern in ihnen Hunderte Kilometer durch die fremden Lande. Und wir kehren täglich hundemüde mit Tausenden Fotos auf den Speicherkarten in unsere Quartiere zurück. Auch wenn wir in keinem dieser Quartiere mehr als zwei Nächte verbringen, ist jedes ein Zuhause, dank der immer offenen und fröhlichen Menschen und dank des unerwartet hohen Standards. Mittelamerika ist eine Tourismusregion.
Die verlorenen Ursprünge
Unsere Reise führt uns an die Golfküste nach La Venta, genauer nach Villahermosa. La Venta war eine der zentralen Stätten der Olmeken, der ältesten bekannten Kultur in diesem Raum. Doch durch die rücksichtslose Ölförderung in diesem Gebiet seit den 60er-Jahren waren die Kulturgüter in Gefahr. So wanderten die riesenhaften Steinskulpturen, die fantastischen Altäre und Mosaike in den Parque-Museo de La Venta nach Villahermosa. Neben ebenso riesenhaften tropischen Pflanzen und Käfigen mit Jaguaren, Krokodilen und anderen den Olmeken wichtigen Tieren liegen sie verstreut, wie vom Himmel gefallen: die berühmten Basaltköpfe. Sie sind viel größer als wir sie uns vorgestellt hatten und zeigen negride und asiatische Züge. Woher kamen sie?
Auch von der Stadt Teotihuacán, einstmals mit rund 200.000 Einwohnern eine der größten Städte der Welt, kennen wir weder Ursprung noch Erbauer. Woher kam das hier ganz offensichtlich vorhandene Wissen? Die gesamte Anlage widerspiegelt die Milchstraße und die Planeten unseres Sonnensystems. Ihrem Namen nach war es die Stadt, in der die Menschen zu Göttern wurden. Sie kamen von den Göttern und gingen dort zu ihnen zurück.
Rätselhaft ist auch der Ursprungsmythos der Azteken, die ihre Herkunft auf eine Insel im Atlantik mit dem Namen Aztlan zurückführen, die in einer vulkanischen Katastrophe untergegangen sein soll. Dies erinnert uns an Platons Atlantiserzählung, die er auf ca. 10.000 Jahre vor Chr. datiert. Da die Azteken aber erst im 11. Jahrhundert erschienen, wird die Erzählung zu einer mythischen Erinnerung an ein Geschehen aus grauer Vorzeit.
Und ebenso rätselhaft wie die Ursprünge ist das Verschwinden einiger Kulturen. Sowohl die Olmeken wie später die Mayas haben zahlreiche Stätten einfach verlassen. Weder zeigen sich Spuren von Zerstörung noch von sonstigem Verfall. Über 6000 Mayastätte sind heute bekannt, nur wenige hat man unter großem Aufwand dem alles verschlingenden Dschungel wieder entreißen können.
Der Kampf ums kostbare Wasser
Tikal ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Stadt hatte kein eigenes Wasser, weder in Form von Grundwasser, noch durch Flüsse oder Seen. Alles Wasser wurde in der Regenzeit gesammelt. Daher fungierte die Akropolis der Stadt als ein riesiger Wassersammler. Alles war perfekt planiert, kein Baum durfte in der Anlage sein. Perfekt konstruierte, leichte Gefälle leiteten das Wasser in großzügige Reservoirs, die für die regenarme Zeit ausreichen mussten.
Dagegen wurde Tenochtitlan, das heutige Mexiko-City, auf dem großen Texcoco-See erbaut. Bis heute zehrt die Stadt von dieser ehemaligen Seenlandschaft. Jetzt aber wird das Wasser knapp. Durch den enormen Bedarf der 20-Millionen-Metropole wird zu viel Grundwasser abgepumpt und die Stadt sinkt immer tiefer.
Riesige Wasservorkommen dagegen existieren noch heute im Südosten Mexikos, in Chiapas. Internationale Großkonzerne wittern hier das große Geschäft. Sie versuchen große Gebiete zu kaufen, wogegen sich die indigene Bevölkerung bisher erfolgreich wehren konnte. Nun wird versucht mit Tricks, wie zum Beispiel der Errichtung von großräumigen Kibbuzim, an die Wasservorräte zu gelangen.
Blut und Opfer
Grausame Menschenopfer sehen wir heute als einen Wesenszug der mittelamerikanischen Kulturen. Darstellungen von blutigen Selbstverstümmelungen bis hin zu Massenopfern begegnen uns fast überall, auf der Keramik, in Fresken oder auf Stelen. Doch nur wenige archäologische Funde deuten auf großangelegte Menschenopfer hin. Und fast alle stammen aus der Spätzeit der Azteken. Bei den Mayas konnten bisher, außer vereinzelt beim Tod eines Herrschers, überhaupt keine Menschenopfer nachgewiesen werden. Waren es also nur Symbole für „innere“ Opfer, alte Gewohnheiten und Untugenden aus sich „herauszureißen“ bzw. sich selbst in den Dienst zu stellen? Jedenfalls erkennen wir ein anderes Verhältnis zu Krieg und Tod. Sterben heißt im höheren Sinne wiedergeboren werden, dargestellt im Erblühen einer Blume über dem Herzen. Man sprach vom Blumenkrieg. Die Schwierigkeiten des Lebens lassen den Menschen reifen und erblühen. Nicht einfach zu verstehen für uns heute als Menschen eines materialistischen Weltbildes. Doch das damalige indigene Weltbild wurde nicht vom Physischen dominiert. Das (Selbst)Opfer – egal ob nur symbolisch oder auch zeremoniell vollzogen – entspringt der Erkenntnis, dass alles, was der Menschen erreichen will, Opfer fordert: Anstrengung und Mühe, Selbstüberwindung und Disziplin. Man bekommt nichts geschenkt und man kann sich nicht alles für Geld kaufen.
Verbindung der Religionen
Die christlichen Spanier eroberten Land und Leute. In den meisten Städten schleiften sie die Tempel und Pyramiden und erbauten an derer Stelle Kirchen. Die indigene Religion wurde als Ausfluss des Teufels betrachtet. Uns beeindruckt heute die Größe und Ästhetik der alten Zeremonialanlagen, aber auch die an ihre Stelle getretenen Kirchen sind bemerkenswert. In vielen Fällen wird die alte Religion einfach weiter praktiziert – allerdings im christlichen Gewand. Wie zum Beispiel in der Kirche Santa Maria Tonantzintla in Cholula. Dort setzte die indigene Bevölkerung den katholischen Priester vor die Türe und gestaltet seither ihre Zeremonien und Prozessionen selbst. Auch finden wir hier eine einzigartige Übersetzung der religiösen Formen. Die christianisierten Azteken erkannten die Ähnlichkeit von Jesus mit ihrem Gott Quetzalcoatl, der vom Himmel gefallenen gefiederten Schlange. So ließen sie in ihrer Kirche Jesus Christus in einer Darstellung kopfüber vom Himmel fallen, wie Quetzalcoatl im alten Mythos. Und da jeder ihrer eigenen Götter eine weibliche Entsprechung als Ergänzung hatte, stellten sie Jesus eine Jesusa und Maria einen Mario zur Seite. Die Verbindung der traditionellen Religion mit der christlichen ist heute lebendiger denn je. Um eine solche Synthese zu schaffen, braucht es eine große Klarheit in den Ideen und eine ebenso große Freiheit in den Ausdrucksformen.
Zwischen Kosmos und Chaos
Die alten städtischen Anlagen mit ihren komplexen konzeptionellen Ordnungen versetzen uns jedes Mal von neuem in Erstaunen. Wie gelang es beispielsweise den Mayas in Tikal verschiedene Pyramidentempel zu unterschiedlichen Zeiten so zu bauen, dass sie alle Hauptdaten des Sonnen- und des zeremoniellen Kalenders widerspiegeln? Dies und vieles andere lassen eine weitreichende spirituelle, soziale und politische Vision erahnen. Und diese weitreichende Vision steht in krassem Gegensatz zur Kurzsichtigkeit der heutigen Politik, was sich in mangelnder Bildung, fatalen sozialen Gegensätzen und erschreckender Kriminalitätsrate zeigt. Die 43 mexikanischen Studenten, die seit ihren Protesten im Herbst 2014 spurlos verschwunden waren und schließlich brutal ermordet und verbrannt aufgefunden wurden, geben ein mahnendes Beispiel, wie gering heute Menschenrechte geachtet werden und wie salonfähig Korruption bereits geworden ist.
Genauso wie wir uns anstrengen, fantastische alte Städte dem Dschungel zu entreißen, müssen wir alles daransetzen, das Menschliche wieder vor das Dschungelrecht des Stärkeren zu stellen.
Dieser Artikel von Mag. Hannes Weinelt und Dr. Wigbert Winkler erschien erstmals in der Ausgabe Nr. 141/2015 des Magazins Abenteuer Philosophie; Copyright: Verlag Filosofica, Münzgrabenstraße 103, 8010 Graz; www.abenteuer-philosophie.org